Ich hatte in Deutschland nie die Wahrheit der Zeitungsberichte oder Fernsehdokumentationen über Genmanipulation von Getreide etc. angezweifelt, dennoch war es für mich irgendwie abstrakt. In der Realität zu sehen, dass Monsanto tatsächlich bis in die abgelegensten und ärmsten Gegenden dieser Welt vorgedrungen ist, um ehrlich arbeitende Bauern zu Chemikalien-Sklaven zu machen, war für mich ein Schock!
Fährt man in Andhra Pradesh auf dem Land herum, scheint oberflächlich die Welt noch ganz in Ordnung. Man sieht Frauen in leuchtendfarbenen Saris die Straße entlang gehen, sie tragen etwas auf dem Kopf, kleine Ziegenherden mit einem Jungen oder Alten der auf sie aufpaßt, im Schatten eines großen Baumes rastende Tiere und Landarbeiter bei der Brotzeit. So schaue ich gerne aus dem Fenster des Autos, wenn wir zu den Dörfern unterwegs sind. Immer wieder überholen wir Ochsenkarren. Manchmal sieht man noch die alten bemalten, holzgeschnitzten; die Ochsen tragen kleine Schellen an den Hörnern, sie klingen bei jedem Schritt…
Wir erreichen das erste Dorf und die erste Familie. Wir, das sind Prof. K. Venkat Narayana, Mr. Ramreddy und ich. Der Prof. und ich kennen uns schon vom ersten gemeinsamen Projekt für Opfer der Mikrokreditindustrie. Der Bericht über diese erste Hilfsaktion findet sich weiter unten auf dieser Seite.
Bild links: Prof. K. Venkat Narayana, Bild rechts im Vordergrund: Mr. Ramreddy
Durch unsere super gute Zusammenarbeit ist eine echte Freundschaft, auch mit seiner Familie, entstanden. Mr. Ramreddy ist diesmal während des ganzen Projekts ebenfalls dabei. Er fährt uns auf eigene Kosten Tag für Tag zu den weit entlegenen Dörfern.
Besuch in den Dörfern
Meistens stehen dort schon 3 Plastikstühle bereit. Oft ist das halbe Dorf versammelt. Unser Besuch ist etwas besonderes.Wann kommt schon mal ein Fremder ins Dorf; viele haben noch nie eine Westlerin gesehen. Sie erzählen, Journalisten machen Notizen und Fotos, auch ich fotografiere. Prof. V.N. und Ramreddy führen das Gespräch und übersetzen für mich.
Oft ähneln sich die Berichte über die tragischen Geschehnisse. In einer Familie hatte sich der Mann im Haus erhängt, in einer anderen Familie hatte sich der Mann einen schweren Felsstein an den Fuß gebunden und ist in den Brunnen gesprungen, ein anderer hatte Pestizide getrunken und wurde tot auf dem Feld gefunden und, und, und…. Vielfach hatten verschiedene Gründe zu diesem verzweifelten Ende geführt: zwei, drei Fehlernten in Folge; gentechnisch verändertes nicht mehr vermehrungsfähiges Saatgut, Fake-Saatgut, Pestizide und Düngemittel – alles geliefert von Monsanto. Sie bestimmen die Preise. Hinzu kommt die Dürre. Mit Hilfe von Generatoren wird bei Trockenheit das Wasser hochgepumpt, der Grundwasserspiegel sinkt somit von Jahr zu Jahr. Stromausfälle bedeuten bei der üblichen Trockenheit, dass die ganze Ernte vertrocknet. Monsanto will nun auch noch die Wasserlizensen kaufen…
Entrüstung ist bei den Bauern kaum noch zu spüren; man ist resigniert. Nackte Verzweiflung, Ausweglosigkeit, Zukunftsangst – was wird aus unseren Kindern? Solche Fragen stehen im Raum?!
Wollt ihr eine Kuh?
Ich stelle klar, dass sie frei sind, und frei sagen können, was Ihnen am meisten hilft. Unser Besuch ist keine Prüfung, bei der man das Richtige sagen muss. Die Tatsache, dass sich das Familienoberhaupt das Leben genommen hat, reicht, um für das Hilfsprogramm ausgewählt zu werden. Sie sind erstaunt, daß sie überhaupt jemand gefunden hat in ihrem kleinen Dorf, in das sonst noch nie ein Fremder gekommen war – viele Autostunden von der nächsten Stadt entfernt.
Nach dem Tod steht die junge Witwe da – mit einer verzweifelten Schwieger-/mutter, -vater, Brüder, Kinder… Wer führt nun den Hof weiter? Was geschieht mit den Krediten? Fragen über Fragen. Die Schwiegereltern der Witwe sind meist nicht viel älter als ich – oft abgearbeitet und erschöpft. Alle – auch wir – scheinen von der Situation überfordert zu sein. Wie kann man solche Menschen trösten, was sagt man ihnen?
Wir sitzen wieder im Auto, auf zum nächsten Dorf. „Lass uns ab jetzt nur noch Familien besuchen, bei denen der Tod des Angehörigen mindestens ein halbes Jahr zurück liegt.Vielleicht haben die Hinterbliebenen dann schon eine Vorstellung, wie es weiter gehen kann…?!“ schlage ich vor. Prof. Venkat Narayana geht mit dem Finger in der Liste ein paar Zeilen tiefer – kein Problem, die Auswahl ist groß. 250.000 Farmer haben sich in Indien bereits das Leben genommen.
Bitter schaue ich aus dem Fenster des Autos. Es ist alles absolut aussichtslos. Was mache ich hier nur?
Bei einem Gespräch in einer kleinen Runde frage ich: „Woran liegt es, dass es einige Bauern nicht schaffen und andere schon? „Nun, heutzutage müssen die Bauern Geschäftsleute, Manager sein. Das sind die meisten nicht. Die es nicht schaffen, sind überwiegend einfache, grundehrliche Menschen, viele sind Analphabeten.“ „Warum jagt die Regierung Monsanto nicht einfach aus dem Land, das ist ihr bei den Mikrokreditbanken doch auch gelungen?“ „Die Regierung ist Monsanto!“ wird mir erklärt. „Wie?“ Ich muss den Satz dreimal hören: „Ja, die Regierung wird von Monsanto bezahlt. Sie wollen, dass sie bleiben!“ Korruption ist in Indien ein weit verbreitetes Problem.
Eine halbe Stunde später sitzen wir vor der nächsten Witwe. Ich weine und kann mich gar nicht mehr beruhigen und werde fotografiert. Ich fotografiere die Journalisten. Die Journalisten fotografieren uns. Wir verteilen Bananen bevor wir gehen, ich werde mit Banane fotografiert. Ich soll fürs Foto eine Banane schälen und der Witwe hinhalten. Ich weigere mich. Ich fotografiere die Witwe und die Kinder, und wir steigen ins Auto und fahren. Der Ziegenhirte steigt mit ein, er zeigt uns den Weg zur nächsten Familie. Ich glaube, er hat noch nie in einem Auto gesessen, der Glückliche, er freut sich.
Warum ein Verein?
fragten mich ein paar Freunde, die Frage verstehe ich nur zu gut! Dieser bürokratische Schritt mußte leider sein; aus finanzrechtlicher Sicht muss ich mich für alle Einnahmen und Ausgaben rechtfertigen. Außerdem kann ich jetzt Spendenquittungen ausstellen. Das behördliche Prozedere mit den dazugehörigen Schreibereien ist abschreckend und der beste Beweis dafür, dass ich mein soziales Engagement in Indien fortsetzen möchte. Keine Sorge, die Projekte sollen auch künftig transparent bleiben und für jeden, der Geld gegeben hat, muss weiterhin nachvollziehbar sein, was daraus geworden ist. Ich verstehe mich dabei als eine Art Botin, und ich möchte dafür garantieren, dass jeder gespendete Cent ohne Abzug für Spesen die betroffenen Notleidenden 1 : 1 erreicht. Sankranti e.V. heißt der kleine gemeinnützige Verein. „Sankranti“ dies Wort kennt in Indien jeder, es ist das Fest der Farmer, das Erntedankfest. Es steht für Neubeginn.
Um Gott in jedem Gast willkommen zu heißen, werde die Hauseingänge zu Sankranti geschmückt.
Die Zierde des Mittelpunkts der „Rangolis“ besteht oft aus Kuhdung
Das Geld und der Plan
Insgesamt sind bei der Spendenaktion 5.704,13 € bis Ende Januar 2013 zusammen gekommen. Ich konnte alles berücksichtigen. Der Wechselkurs lag zwischen 71,1 und 71,6 Rupies für 1 €. 13 Familien konnten durch die Aktion unterstützt werden. Alle erhielten die gleiche Summe 28.000,-rps plus 2.500,-rps in bar.
Zwei Familien konnten sich von dem Geld eine Kuh mit einem Kälbchen kaufen. Eine Familie hatte sich von dem Geld eine kleine Herde von acht Schafen angeschafft. Die anderen zehn Familien entschieden sich für Geld, das für sie von mir für 5 Jahre auf der DENA- Bank (Konzept wie im Vorjahr) deponiert wird. Es gibt 9,5 % Zinsen, diese können sie sich halbjährlich auszahlen lassen. Das Geld ist für die Ausbildung ihrer Kinder oder die Aussteuer/Verheiratung ihrer Töchter vorgesehen. Ich bezahlte außerdem von den Spendengeldern 14 Saris (Kleid) und das Essen für die Angereisten am Tag der Scheckübergabe.
Die Fotos hatten Journalisten gemacht. Die neuen Kuh-Besitzer überreichten mir stolz und froh die Fotos am Tag der Scheckübergabe.
Diese Familie konnte sich von dem Geld eine kleine Herde mit 8 Schafen anschaffen. Der kleine Junge und seine Großmutter werden die Schafe hüten. Der junge Mann auf dem nächsten Foto hat nur noch ein Bein. Er hat seinen Vater verloren. Jetzt verkauft er am Bahnhof Wasser.
Tag der Scheckübergabe
Wie schon beim ersten Projekt wollen wir die Schecks in einem feierlichen Rahmen überreichen. Geladene Gäste sind Mitglieder von Frauen- selbsthilfegruppen, Journalisten, Dorf-Bürgermeister, die Familien selbst und ihre Verwandten. Die Akademie der Künste in Warangal stellte uns für dieses Programm kostenlos einen Saal zur Verfügung.
Für die Bauern war es ein weiter Weg bis Warangal, daher sollte es für alle zur Begrüßung eine gemeinsame Mahlzeit geben. 100 Personen erwarteten wir.
Nach dem Essen stehen wir alle relativ ratlos im Innenhof vor dem Eingang zum Saal herum. Der Unibetrieb läuft wie gewohnt. Studenten schauen uns fragend an. Journalisten stehen bereit. Wir warten… wir Frauen setzen uns auf eine kleine runde Rasenfläche umgeben von einer Buchsbaumhecke. Da sitzen wir nun, sehen uns an, erkennen uns wieder, sind froh, dass wir wenigstens uns kennen in dem ganzen Getümmel. Die Männer stehen drum herum. Eine Frau kommt freudestrahlend auf mich zu. Ich erkenne sie. „Die Kuh hat heute schon 3 Liter Milch gegeben.“ Sie strahlt. Das ist für eine indische Wasserbüffelart schon eine gute Menge. Wir freuen uns zusammen. Einige Frauen und Töchter suchen meine Nähe, setzen sich zu mir und weinen. Ich weine auch. Wie Blumenstauden sitzen wir da – auf dem Rasen im Innenhof der Akademie der Künste.
Endlich ist der Saal frei.
Alle ehrenamtlichen Redner, die Prof. Venkat Narayana eingeladen hatte, sind wohlverdiente und in dem Distrikt bekannte Persönlichkeiten, die sich für die Rechte der Farmer eingesetzt hatten und bei den Menschen hoch angesehen sind. Viele Journalisten und ein Fernsehteam waren ebenfalls anwesend. Irgendwann war ich dran mit meiner Rede. Alle, auch die die schon fast eingeschlafen waren, schauten mich gebannt an.Was würde sie sagen? Was soll ich bloß sagen? und dann noch auf Englisch. Zwei Tage zuvor hatte ich eine Rede zu Papier gebracht und geprobt… Sie landete im Papierkorb.
Ich sah in all die Gesichter, ich kannte fast alle.Wir alle hatten uns in den Dörfern oder bei Treffen der Frauenselbsthilfegruppen gesehen. Was sag ich ihnen? Sie schauten mich an als sei ich eine Erlöserin. Ich sagte, dass ich ganz sicher bin, dass Gott sie liebt – auch wenn sie es nicht glauben können und dass es SEIN Wille war, dass sie Hilfe bekommen. U.a. erzählte ich, dass wir im Westen durch die Medien sehr genau über die Probleme der Bauern in Indien informiert sind. Sie seien nicht allein. Die Menschen in Deutschland und der Schweiz würden Solidarität für sie empfinden und hätten ihr Geld aus Liebe und Mitgefühl für sie gegeben (…). Ich forderte sie auf, sie mögen sich gegenseitig helfen, nicht den Mut verlieren und die Witwen und ihre Familien unterstützen… Ich würde wieder kommen und schauen, wie es ihnen geht – im nächsten Jahr!
Nach den Ansprachen wurde jede einzelne Familie aufgerufen. Sie erhielten Schecks, Bargeld und die Frauen einen Sari. Die Mädchen bekamen Schals, die Kinder einen Tennisball und andere Kleinigkeiten. Viele der Witwen umarmten mich, wir versteckten unsere Gesichter hinter dem Sari, sie schluchzten, einige wollten gar nicht mehr aufhören … ich flüsterte ihnen ins Ohr „Du schaffst es!! Du schaffst es!!…“ Für jede Witwe wird ihr neuer Sari eine große Bedeutung haben, sie wird ihn anziehen können, wenn sie traurig ist und sie wird sich an diesen Tag erinnern.
Wir haben mit dieser Aktion ein deutliches Statement gesetzt. Ich kann die Stimmung im Saal kaum beschreiben. Die Menschen haben sich solidarisch gefühlt, sie kommen sonst nie als Gruppe zusammen. Sie haben gesehen, dass sie von Menschen aus einem ganz anderen Teil der Welt wahrgenommen wurden – in ihrem kleinen Dorf und dass sie nicht alleine sind mit ihrem Schicksal. Sie haben Achtung erfahren durch den festlichen Rahmen und die Ermutigung der Redner. Journalisten haben sich für sie und ihre Probleme interessiert. Mehrere Fernsehteams machten Interviews. Die Journalisten waren hochmotiviert über die unzumutbare Haltung der Regierung zu schreiben. In mindestens 15 regionalen und überregionalen Zeitungen Indiens wurde darüber berichtet, es gab eine 20-minütige Fernsehsendung über die Lage der Bauern und unsere Aktion.
Es herrschte ein sagenhaftes Zusammengehörigkeitsgefühl. Es flossen viele Tränen. Wie oft habe ich „Danke, Danke, Danke!“ gehört, ich kann den Dank nur von ganzem Herzen an Euch weitergeben. Ihr ward es! Dank eures Mitgefühls habt ihr das Leben dieser Menschen nachhaltig verändert!!
Da bin ich sicher.